Die Situation im Nordwesten Syriens – Heimat für 4 Millionen Menschen – verschlechtert sich von Tag zu Tag. Schwere Bombenangriffe in der Region rund um Idlib und Aleppo haben seit Anfang Dezember mehr als 900.000 Menschen zur Flucht gezwungen – über 60 Prozent von ihnen sind Kinder. Es ist die größte Vertreibung seit Kriegsbeginn vor neun Jahren.

Für viele der Geflüchteten ist es nicht das erste Mal, dass sie sich vor der Gewalt in Sicherheit bringen müssen. ̽ѡ hat mit einigen dieser Frauen und Männer gesprochen: warum sie nach Idlib kamen, haben wir gefragt und was sie sich für ihre Zukunft erhoffen.

Nachts weine ich um meine Söhne.

Nassers* Söhne wurden bei Luftangriffen getötet. Der eine hatte gerade erst geheiratet. Er war dabei, für sich und seine Frau das Haus in Aleppo aufzustocken.

„Überall wurde gebombt“, erinnert sich der 55-jährige. Zehn Mal musste Nasser fliehen, bevor er mit seinen drei jungen Töchtern in Idlib ankam. „Nirgendwo bekamen wir Unterstützung – nicht psychisch, nicht physisch: Nachts habe ich um meine beiden Söhne geweint, die ich bei Bombenangriffen verloren habe. Sie waren die einzigen, die mir helfen konnten.”

Rescue hilft Nasser, ein Geflüchteter in Nordwestsyrien
Nasser hat im Krieg seine beiden Söhne verloren und wurde mehr als zehn Mal vertrieben. Bei einem Motorradunfall hat er sich zudem so schwere Verletzungen zugezogen, das er nun mit einer dauerhaften Behinderung leben muss. Mit finanzieller Unterstützung des ̽ѡs konnte sich Nasser kaufen, was er zum Überleben brauchte.
Foto: Abdullah Hammam/̽ѡ

 

Nasser, der Musik studiert hat, zieht nun seine Töchter alleine auf. In Deir Hassan, einer Stadt in der Region Idlib erhält er finanzielle Unterstützung vom ̽ѡ. Nur so kann er Nahrung, Wasser und Haushaltswaren zur Deckung seiner Grundbedürfnisse kaufen. Er träumt dabei von einem Ende des Konflikts, damit seine Töchter in Sicherheit aufwachsen können: 

„Ich hoffe die Situation wird sich bessern. Die Menschen hier haben viel gelitten.“

Während der Bombardierungen haben wir uns in Schutzräumen und Kellern versteckt. Es hat aber nicht geholfen.

Watfa, 37, stammt ursprünglich aus einem Dorf namens Ma'aret Hurmah in Idlib. Viermal musste sie wegen Bombardierungen fliehen. Im Mai wurde ihr Haus bei einem Luftangriff zerstört. Sie bereitete mit ihrem Onkel, ihrer Cousine und ihrer Schwester gerade das Essen zum Fastenbrechen vor.

„Während der Bombardierung haben wir uns im Keller versteckt,“ erklärt sie. „Es war Ramadan, und wir wollten Iftar vorbereiten. Als wir nach oben gingen, sahen wir neun Flugzeuge, die Bomben abwarfen. Dann wurde unser Haus zerstört.“ Watfa flüchtete aus Ma'aret Hurmah nach Deir Hassan, wo sie nun mit ihrer Familie lebt.

Geflüchtete Frau in Nordwestsyrien
Watfa konnte nur sehr wenig aus ihrem Haus, das bei einem Luftangriff im vergangenen Jahr zerstört wurde, retten. Da ihre Mutter gerne näht, nahm sie ihre Nähmaschine und die von ihr gefertigten Decken mit. Sie wusste, es würde ihr Trost bringen.
Foto: Abdullah Hammam/̽ѡ

 „Wir konnte ein paar Dinge retten, bevor unser Zuhause zerstört wurde,“ sagt Watfa. „Meine Mutter näht Decken und Bezüge. Ich habe sie mitgenommen, weil ich weiß, wie sehr sie ihre Arbeit liebt.“ Durch die finanzielle Unterstützung des ̽ѡ konnte Watfas Mutter zum Arzt gehen und sich notwendige Medikamente kaufen.  

Unsere größte Sorge ist, den Patienten keine medizinische Hilfe anbieten zu können.

Auch Gesundheitseinrichtungen – darunter auch einige, die vom ̽ѡ unterstützt werden – sind Ziel von Bombardierungen. Mehrere ̽ѡ-Kliniken mussten inzwischen aufgrund der eskalierenden Gewalt geschlossen werden. Andere leiden unter knappen finanziellen Ressourcen.

Medikamente können nicht gekauft, mobile Kliniken und psychologische Gesundheitsdienste nicht bezahlt werden. Die Einrichtungen, die noch betrieben werden, sind heillos überfüllt.

„Seit der jüngsten Offensive im Frühjahr letzten Jahres wurden mehrere medizinische Einrichtungen geschlossen. Das hat die Anforderungen an die anderen Krankenhäuser in der Region Idlib enorm erhöht“, sagt Dr. Karam*, der als Kinderarzt für die Partnerorganisation des ̽ѡ, die Syrian American Medical Society, arbeitet. „Wir arbeiten unter ziemlich hohem Druck. Die ohnehin schon knappen medizinischen Ressourcen fehlen. Unsere größte Angst ist, den Patienten nicht helfen zu können.“

Im vergangenen Dezember brachte das Ambulanzteam des ̽ѡ über 230 Patienten in kritischem Zustand in Krankenhäuser, darunter Patienten mit Herzproblemen und werdende Mütter, die in den Wehen waren oder gerade eine Fehlgeburt erlitten haben.

Eine geflüchtete Frau kocht in einem Flüchtlingslager in Idlib
Eine syrische Frau macht in einem informellen Lager am Rande des Dorfes Qah in der ländlichen Region im Norden Idlibs mit Olivenbaumzweigen Feuer zum Kochen.
Foto: Abdullah Hammam/̽ѡ

 

Wir können uns keine neuen Decken leisten.

Viele der neu vertriebenen Familien haben keine andere Wahl, als unter freiem Himmel zu schlafen – auch wenn die Temperaturen in den Wintermonaten nachts auf unter null Grad sinken können. Eigentlich brauchen diese Menschen dringend eine Unterkunft, die Möglichkeit, sich warm zu halten, sowie psychosoziale Unterstützung, um die jüngsten Traumata zu bewältigen. Stattdessen suchen die Menschen Schutz, wo auch immer sie können: in Schulen, Moscheen, Bauruinen, verlassenen Geschäften oder sogar windigen Zelten.

„Das Zelt hier ist nicht für den Winter geeignet. Es ist schon ganz abgenutzt“, sagt Mohammed,* der in einem informellen Lager in Ma'aret Tamisrin lebt. „Unser Zelt kann dem Wind nicht widerstehen, deshalb benutzen wir unsere Kleidung, um es am Boden zu befestigen. Mit den Decken stopfen wir die undichten Stellen zu. Neue Decken können wir uns nicht leisten. Wir fürchten uns auch davor, dass das Zelt einmal in Flammen aufgeht. Wir nutzen einen Holzofen – andere Heizmöglichkeiten sind zu teuer.“

Zerstörte Gebäude in Idlib
Zerstörte Gebäude in Ariha, eine Stadt in der Provinz Idlib: Seit Anfang Dezember sind mehr als 900.000 Menschen aus Idlib und anderen Gebieten Nordwestsyriens geflohen.
Foto: Abdullah Hammam/̽ѡ

Das ̽ѡ und seine Partner unterstützen zwölf Gesundheitseinrichtungen und sechs mobile Gesundheitsteams in der Provinz Idlib. ̽ѡ versorgt von Flucht betroffene Familien auch mit dringend benötigter finanzieller Unterstützung, um ihnen durch die kalten Wintermonate zu helfen. .

*Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen und zum Schutz der Privatsphäre geändert.