„Ich vermisse das Wort ‚Papa‘. Ich vermisse es ‚Liebster‘ von meiner Frau genannt zu werden, manchmal vermisse ich es sogar, nur die Fußstapfen meiner Kinder zu hören.“

Hassan hat seine Frau und seine Kinder seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Er kam im November 2019 auf der griechischen Insel Chios ganz allein an, denn er musste ohne seine Familie aus Syrien fliehen.

„Ich konnte meine Frau und meine Kinder nicht aus Syrien mitnehmen, weil die Regierung nach mir suchte. Ich musste alleine fliehen. Irgendwann stellt man fest, dass die [syrische] Regierung eine Art Gang ist, keine Regierung.“

Eine Illustration von einem Boot im Meer.
Hassan überquerte das Mittelmeer auf einem Schlauchboot.
Foto: Jocie Juritz / ̽»¨¾«Ñ¡

Hassan musste mehrere Tausend Euro zahlen, um aus Syrien rauszukommen und floh zunächst in die Türkei. Dann ging es mit einem Schlauchboot weiter nach Griechenland. „Auf dem Boot überkommen einen viele unterschiedliche Gefühle. Das ist der Moment, in dem man den Wert seines eigenen Lebens vor sich sieht.“

Hassan schaffte es nach Chios und war erleichtert – er musste nicht mehr ums Überleben in Syrien kämpfen. Er lebte monatelang in Zelten im großen Lager auf der griechischen Insel, bevor er schließlich eine Wohnung in der Stadt bekommen konnte.

„Die Tage dort waren dreigeteilt: das Kümmern um den Asylantrag beanspruchte viel Zeit, genau wie das Warten auf Essen und den Rest der Zeit kümmert man sich um andere. Ich wusste, dass die Situation hier sehr schlecht sein würde, aber ich musste tun, was ich konnte, um zu überleben“, sagt er.

Illustration von Menschen, die im Wort "Queue" stehen - Warteschlange.
Das englische Wort ‚QUEUE‘ verdeutlicht die viele Zeit, die Geflüchtete in den griechischen Lagern mit Schlange stehen verbringen: vor der Essensausgabe, vor Sanitäreinrichtungen und für medizinischen und behördliche Dienstleistungen.  
Foto: Jocie Juritz / ̽»¨¾«Ñ¡

„Es ist hart, für Essen anstehen zu müssen. Das Lager sollte Platz für 1.500 Menschen haben. Seitdem hier 7.000 Menschen leben, ist das Essen jeden Tag knapp. Wir versuchten, unsere Essenkarten nur einer Person zu geben, um die Warteschlange zu verkürzen, aber es hat nichts genützt.“

Vielleicht ist die Ungewissheit um die Zukunft das Schwierigste an Hassans Leben. „Jeder Tag ist ein Wartetag. Nehmen sie den Asylantrag an, oder nicht? Dann bist du wieder draußen. Man denkt die ganze Zeit darüber nach und weil die Tage so leer sind und man nichts zu tun hat, ist das sehr sehr anstrengend.“

Illustration: Hassan wartet auf die Bewilligung seines Asylantrages.
Geflüchtete wie Hassan leben auf den Inseln und warten darauf, ob ihre Asylanträge akzeptiert werden.
Foto: Jocie Juritz / ̽»¨¾«Ñ¡

Diese langen Wartezeiten und die überfüllten Notunterkünfte haben negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Asylsuchenden auf den griechischen Inseln.

Hassan beschreibt, dass er „mental müde“ wurde. Dann hörte er vom ̽»¨¾«Ñ¡-Programm für psychische Gesundheit, bei dem Psycholog*innen Einzelsitzungen anbieten, um Asylsuchenden bei der Bewältigung ihrer Erlebnisse und dem Wiederaufbau ihres Lebens zu helfen.

„Die Mitarbeiter*innen von ̽»¨¾«Ñ¡ - zumindest die, die ich hier kenne - haben eine positiven Blick aufs Leben: Weitermachen“, sagt er. „Vielleicht gibt das einem den Mut, wirklich weiterzumachen?“

Illustration: Vor Hassans Gesicht sieht man einen grünen Haken.
„Alles, was ich brauche, ist ein grüner Haken neben meinem Namen.“ Ein grüner Haken bedeutet Freiheit, Sicherheit, ein Neuanfang für Geflüchtete wie Hassan.
Foto: Jocie Juritz / ̽»¨¾«Ñ¡

Hassen denkt über die Sitzungen mit der Psychologin nach, die ihm half, seine Angst vor der Polizei zu überwinden und ihm dadurch half, mit Beamt*innen zu sprechen. „Das Wichtigste, was sie mir beigebracht hat, ist mutig zu sein - die Art und Weise, wie sie Dinge erklärt, gab mir die Möglichkeit, mich wohl zu fühlen und dem Leben neu zu begegnen.“

Hassan vergleicht die Erfahrung mit der Psychologin damit, alle Gedanken und Erfahrungen mit einem Freund zu teilen, ohne Verurteilung oder Vorwürfe zu befürchten. „Du leerst deine ganze Tasche aus, ohne an die Reaktion deines Freundes zu denken. Du siehst es in den Gesichtern, dass sie froh sind, dass du hier bist. Man fühlt sich gleich viel ruhiger und geborgener. Diese Leute akzeptieren alles, was du sagst, egal was es ist.“

Illustration: Hassan und der Schriftzug "Keeping Going"- Weitermachen
Das ̽»¨¾«Ñ¡-Psycholog*innenteam unterstützt Geflüchtete, die auf den Inseln festsitzen und hilft ihnen, den Mut in sich selbst zu finden und weiterzumachen.
Foto: Jocie Juritz / ̽»¨¾«Ñ¡

Hassan sagt, er fühle sich auch verpflichtet, die Menschen darüber zu informieren, wie sie sich vor COVID-19 schützen können. Er will die Menschen unterstützen, wenn es um die Pandemie geht. „Die Leute im Lager versuchen, sich zu schützen - sie haben viele Dinge durchgemacht, um zu überleben. Ich versuche, ein Sprecher für die Gemeinde zu sein, jemand der mit der Regierung und den NGOs redet, um meinen Mitmenschen mit Gütern und Geld zu helfen. Es ist nicht viel, aber jeder gibt, was er kann.“

Hassan hat eine einfache Botschaft an die internationale Gemeinschaft: „Helft uns - wir haben nicht all diese Katastrophen, den Krieg, die Hungersnot und die Bomben überlebt und wir sind nicht den weiten Weg von zu Hause hierhergekommen, um Familienmitglieder zu verlieren. Wir haben dabei zuschauen müssen, wie unser eigenes Land verschwand und ich denke, wir verdienen eure Unterstützung. Wir haben unsere Heimat nicht für Essen oder Trinken verlassen. Wir haben das Land wegen der Ungerechtigkeit verlassen.“

„Es ist mir egal, in welchem Land ich bin und wo es ist. Es kann mit jedem Buchstaben des Alphabets beginnen“, sagt Hassan. „Das Wichtigste ist, dass das Land mir und meiner Familie Sicherheit bieten kann.“

Grausamkeit der Ungewissheit

Zusammen mit Hunderten anderen Geflüchteten hat Hassan von ̽»¨¾«Ñ¡ psychologische Unterstützung bekommen, während er in den überfüllten Lagern Griechenlands unter schwierigsten Bedingungen lebte.

Die Pandemie hat die Situation für Geflüchtete auf den griechischen Inseln verschlimmert. Die Menschen werden ohne Perspektive festgehalten. Europa muss dieser Grausamkeit dringend ein Ende setzen und die 15.000 Menschen auf den Inseln umsiedeln.

 

 

*Namen und Geburtsort wurden geändert, um die Identität der befragten Person zu schützen.