Vor fünf Jahren ist die EU-Türkei-Erklärung in Kraft getreten. Aufgrund dieser Politik sitzen tausende Menschen auf den griechischen Inseln fest. Erfahren Sie, was die Erklärung genau beinhaltet und warum sie so problematisch ist.
Als „EU-Türkei-Deal“ wird häufig die „Erklärung zur Zusammenarbeit“ zwischen den EU-Staaten und der türkischen Regierung bezeichnet, die im März 2016 unterzeichnet wurde.
Darin wurden drei zentrale Punkte vereinbart:
- Die Türkei ergreift alle notwendigen Maßnahmen, um „irreguläre Migrant*innen“ davon abzuhalten, aus der Türkei auf die griechischen Inseln zu reisen. Damit sind Personen gemeint, die ohne gültige Aufenthaltspapiere in die EU einreisen oder nach Ablauf ihrer Papiere in der EU verweilen.
- Migrant*innen, die irregulär aus der Türkei auf die Inseln gekommen sind, können dorthin zurückgeschickt werden.
- Pro Syrer*in, die oder der von den Inseln zurückgeführt wird, nehmen die EU-Mitgliedstaaten einen syrischen Geflüchteten auf, die oder der in der Türkei gewartet hat.
Im Gegenzug sollte die Türkei 6 Milliarden Euro erhalten, um die humanitäre Situation von Geflüchteten im Land zu verbessern. Zudem wurde vereinbart, dass türkische Staatsangehörige visafrei nach Europa einreisen können.
Die Botschaft war klar: Wer versucht, Griechenland irregulär zu erreichen, würde schnell zurückgeschickt werden, während sich die Einreisechancen derjenigen erhöhen, die geduldig in der Türkei warten.
Warum wurde die EU-Türkei-Erklärung eingeführt?
Die Erklärung war eine Reaktion der EU auf den starken Zuwachs an Menschen, die 2015 an Europas Küsten ankamen. Fast eine Million Geflüchtete suchten damals Schutz und Sicherheit in der Europäischen Union. Mehr als 3.500, die sich auf die gefährliche Flucht begaben, verloren ihr Leben. Über 75 % der Menschen, die Europa erreichten, waren vor Konflikten und Verfolgung in Syrien, Afghanistan und dem Irak geflohen.
Der Anstieg der Schutzsuchenden beherrschte die Schlagzeilen, löste hitzige öffentliche Debatten aus und begann die öffentliche Meinung zu polarisieren. Während es in einigen Ländern und Gemeinschaften zu einer großen Welle der Unterstützung und Solidarität kam, nutzten eine Reihe populistischer politischer Parteien und Bewegungen in ganz Europa stark migrationsfeindliche Botschaften und Bilder, um ihre eigene Agenda voranzutreiben.
Anfang 2016 begannen die EU-Mitgliedsstaaten damit, ihre Grenzen zu schließen, um zu verhindern, dass Menschen irregulär einreisen. Als die Anzahl Asylsuchender in den EU-Grenzstaaten wie Griechenland zunahm, übte die Europäische Union größeren Druck auf die Türkei aus, um die Abreise Geflüchtetervon der türkischen Küste Richtung Europa einzudämmen.
Am 18. März 2016 wurde die EU-Türkei-Erklärung verkündet, zwei Tage später wurde sie als „temporäre Maßnahme“ implementiert.
Erzielte die Erklärung ihr beabsichtigtes Ergebnis?
Ja und nein. Die Umsetzung der EU-Türkei-Erklärung mag dazu beigetragen haben, dass die Zahl der Menschen, welche die gefährliche Reise nach Griechenland wagen, zurückgegangen ist. Jedoch haben diejenigen, die es in die EU geschafft haben, einen hohen Preis bezahlt und die Zahl derer, die im Rahmen der Vereinbarung in die Türkei zurückgeschickt wurden, war verschwindend gering.
Während heute noch etwa 15.000 Menschen auf den griechischen Inseln festsitzen, wurden in den letzten fünf Jahren 2.140 Menschen im Rahmen dieser Politik von Griechenland in die Türkei zurückgeschickt. Dies ist hauptsächlich auf ein langes und komplexes Asylverfahren zurückzuführen sowie auf die Tatsache, dass - in vielen Fällen - die griechischen Gerichte anerkannt haben, dass die Türkei kein sicheres Land ist, in das man Menschen zurückschicken kann.
Fünf Jahre nach Inkrafttreten der Erklärung hat es keine Massenrückführungen von Griechenland in die Türkei gegeben. Ungefähr 27.000 syrische Geflüchtete wurden im Rahmen des Abkommens aus der Türkei in EU-Mitgliedstaaten umgesiedelt.
Wie hat sich der EU-Türkei-Deal auf Geflüchtete und Asylsuchende auf den griechischen Inseln ausgewirkt?
Die Abschottungspolitik, die als Folge der EU-Türkei-Erklärung eingeführt wurde, hatte verheerende Folgen für die geflüchteten Menschen, die in Europa Sicherheit und Schutz suchen.
In den letzten fünf Jahren haben weit mehr Menschen in den Auffanglagern auf den griechischen Inseln gelebt, als deren Kapazität hergab. Im Dezember 2019 lebten bspw. 18.000 Menschen im Lager Moria auf der Insel Lesbos, dessen Kapazität auf 3.000 ausgelegt war. Dies hat dazu geführt, dass Asylbewerber*innen keinen ausreichenden Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Unterkunft, sanitärern Einrichtungen und medizinischer Versorgung hatten.
Diese Bedingungen haben eine psychische Gesundheitskrise ausgelöst. Drei Viertel der Menschen, die ̽»¨¾«Ñ¡ seit 2018 auf den griechischen Inseln betreut, berichten über Symptome psychischer Erkrankungen. Auf Lesbos zeigten vier von fünf (79 %) der 530 Menschen, die seit März 2018 von unseren Psycholog*innen behandelt wurden, Symptome von Depressionen. Fast die Hälfte (48 %) hat seit dem Verlassen ihrer Heimat an Selbstmord gedacht.
Die COVID-19-Pandemie hat diese Probleme noch weiter verschärft. Kontaktbeschränkungen haben die Menschen auf noch kleinerem Raum zusammengepfercht. Dadurch wurden präventive Maßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen und Abstand halten fast unmöglich.
Erfahren Sie mehr in unserem englischsprachigen Bericht „“.
Im Video erfahren Sie wie Audrey, Baimba und Hassan sich während ihrer Zeit auf den griechischen Inseln den Traumata der Vergangenheit gestellt haben.
Wie kann das Problem gelöst werden?
Die EU und ihre Mitgliedsstaaten können und müssen dem immensen Leid auf den griechischen Inseln dringend ein Ende setzen. ̽»¨¾«Ñ¡ fordert:
Sofortige Überführung
Priorität der EU sollte sein, den sicheren Transfer der Menschen von den griechischen Inseln zu beschleunigen. Dazu gehört, dass mehr Menschen in geeignetere Unterkünfte auf dem Festland gebracht werden und die Umsiedlung von Menschen in andere EU-Mitgliedsstaaten beschleunigt wird.
Der anhaltende politische Stillstand in der Frage der zukünftigen Migrationspolitik der EU kann keine Ausrede für die EU-Regierungschefs sein, nichts zu tun. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass mehr EU-Regierungen sofort aktiv werden und anbieten, Menschen in Not aufzunehmen.
Die schutzbedürftigsten Menschen - darunter unbegleitete Kinder, Familien mit Kindern, Menschen, die sich als LGBTQI identifizieren, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen, Überlebende von Gewalt und Folter - müssen vorrangig aufgenommen werden, bis ein dauerhafter, fairer und praktikabler Umsiedlungsmechanismus vorhanden ist.
1. Sichere, menschenwürdige Unterbringung bereitstellen
Jedem, der auf den griechischen Inseln festsitzt, muss eine sichere und menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung gestellt werden. Gefährdete Gruppen benötigen Not- und Ausweichregelungen. Alle müssen Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen wie Wasser und sanitären Einrichtungen haben, auch um sich angemessen vor COVID-19 schützen zu können. Eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung - auch für psychische Erkrankungen - muss für jede*n gewährleistet sein.
2. Solidarität und geteilte Verantwortung
Die EU muss eine Antwort erarbeiten, die auf Solidarität und gemeinsamer Verantwortung beruht, um den Druck auf die Mitgliedsstaaten an den Grenzen zu verringern und ein faires, nachhaltiges und humanes Umsiedlungssystem zu gewährleisten, das sowohl für die Neuankömmlinge als auch für die Aufnahmegemeinschaften funktioniert.
Die EU darf die Verantwortung für Migration nicht länger auf Länder an ihren Außengrenzen wie die Türkei und Libyen abwälzen. Diese Politik der Externalisierung ist unhaltbar, gefährlich und droht die Grundwerte der EU, die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde, zu untergraben.
3. Sichere, legale Wege nach Europa ausbauen
Die EU muss dringend mehr sichere und legale Einwanderungswege für Schutzsuchende Menschen schaffen, damit diese nicht erst gezwungen sind, ihr Leben auf gefährlichen Migrationsrouten zu riskieren.
Der neue EU-Pakt zu Migration und Asyl ist eine Chance, die bestehende Politik zu korrigieren. Die aktuellen Vorschläge sehen jedoch so aus, als würden sie einige Elemente der EU-Türkei-Erklärung verstärken, darunter die Abschottung, der Mangel an gerechten Asylverfahren und die Externalisierung der EU-Migrationspolitik. ̽»¨¾«Ñ¡ wird mit den Institutionen und den Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass solche Entwürfe nicht zur Grundlage für die zukünftige Herangehensweise der EU wird.
Erfahren Sie mehr über den EU-Pakt zu Migration und Asyl.
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