„Für mich ist Stolz eine Art der Emanzipation. Wenn du dazu stehst, wer du bist, was du denkst und fühlst, hast du bereits gewonnen.“ 

Lerne Jesús kennen, einen 29-jährigen Künstler, der Workshops für die LGBTQ+ Community in Kolumbien gibt.

Jesús Ruiz lächelt in die Kamera und hält hinter sich eine Pride-Fahne hoch
Jesús identifiziert sich als Teil der LGBTQ+ Community und setzt sich für ihre Mitglieder ein.
Foto: Julián Ruiz/̽ѡ

Eine lebensverändernde Entscheidung

2019 – Jesús lebt in seinem Heimatland Venezuela und erfüllt sich einen Lebenstraum: Er beendet sein Kunststudium.

„Als Kind habe ich immer gerne gezeichnet und gemalt“, erzählt er uns. „Schon in der Schule liebte ich Kunst und alles, was mit Kunstgeschichte zu tun hatte. Ich fragte mich: ‚Was muss man studieren, um damit arbeiten zu können?‘“ 

Doch im November desselben Jahres änderte sich alles, als bei Jesús HIV diagnostiziert wurde. In Venezuela konnte er zwar die Diagnose und Medikamente erhalten, es gab jedoch kein angemessenes System zur Überwachung der Krankheit.

„Du bekommst deine Medikamente, weißt aber nicht, ob die Behandlung wirksam ist oder ob sie Nebenwirkungen hat“, erklärt Jesús. „Du nimmst sie also aber weißt nicht mal, wann oder ob der Virus nicht mehr nachweisbar ist. Es gibt keine Nachuntersuchungen zur Behandlung.“

Jesús hatte bereits vorher in Erwägung gezogen, nach Kolumbien zu ziehen, weil die Lebensbedingungen in seinem Heimatland schwierig und die beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten begrenzt waren. Als er dann erfuhr, dass die medizinische Versorgung bei HIV in Kolumbien besser ist, bestärkte ihn das nur noch in seiner Entscheidung.

Als Jesús in der Hauptstadt Kolumbiens, Bogotá, ankam, war es Februar 2020 und er fand sich ohne Job in einer völlig neuen Stadt wieder. Er erlebte eine Zeit intensiver Angstzustände und Depressionen.

Eine vielversprechende Gelegenheit

Es begann im Juni, als Jesús auf eine Stellenausschreibung von  reagierte. Die ̽ѡ-Partnerorganisation setzt sich für die LGBTQ+ Community ein.

Red Somos arbeitet für die Anerkennung und Akzeptanz von sexueller und Geschlechter-Vielfalt, sowie für die Verbesserung sexueller Gesundheit und die Stärkung von Communities. Dies geschieht durch die Bereitstellung kommunaler Maßnahmen, Sozialforschung und Teilhabe, sowie politischer Fürsprache.

Jesus Ruiz schaut in die Ferne
Jesús verließ Venezuela Anfang 2020, nur ein paar Wochen bevor die Pandemie ausgerufen wurde.
Foto: Julián Ruiz/̽ѡ

Kurz nach seiner Bewerbung erhielt Jesús eine Zusage für die Stelle. Das bedeutete, dass er in den nächsten Monaten Schulungen absolvieren und Befragungen in den Nachbarstädten betreiben musste. „Alles war neu für mich, zum Beispiel auch Themen der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, obwohl ich eigentlich darüber Bescheid wissen sollte“, erinnert er sich. „Für mich war es in dieser Zeit wie in der Schulzeit. Es galt: Lernen, Lernen und noch mehr Lernen.“

Vor allem hat Jesús viel über HIV gelernt. Durch offenen Austausch über das Thema und die Erfahrungen anderer änderte sich seine Wahrnehmung der eigenen Diagnose. „Dadurch konnte ich meine Diagnose besser akzeptieren und fühlte mich bestärkt, anstatt Angst zu haben, anderen davon zu erzählen“, erklärt er. „Ich weiß jetzt, dass es einfach ein Teil von mir ist und kein Problem.“

Jesús hat sogar ein Video gedreht, um andere über die Schwierigkeiten bei der Diagnose aufzuklären und darüber, dass man keine Angst davor haben muss. Wenn er über seine Entwicklung nachdenkt, erinnert sich Jesús daran, dass er im Video sagte: „Vor einem Jahr hätte ich das nicht gemacht“.

Inspiration und Hilfe für andere

Jesús arbeitet nun schon seit drei Jahren mit Red Somos zusammen und hat sich in seiner Rolle als Community-Leiter bewiesen. Er nutzt seine Leidenschaft für Kunst, um anderen zu helfen, indem er Kreativ-Workshops leitet, die die psychische Gesundheit der Teilnehmenden fördern sollen.

„Wir nutzen die Kunst als Werkzeug, um Dinge zu reflektieren, über die wir sonst nicht aktiv nachdenken, zum Beispiel, wie wir unseren Körper empfinden und unsere Gefühle ausdrücken“, sagt Jesús. „Wir nehmen alltägliche Dinge und drücken sie in Form von Kunst aus.“

Eine Auswahl von Jesús' Kunstwerken
Eine Auswahl von Jesús' Kunstwerken.
Foto: Julián Ruiz/̽ѡ

Jesús leitet nicht nur Kunstworkshops, sondern auch eine Gruppe für LGBTQ+-Mitglieder, um offen über sexuelle Gesundheit und andere Themen zu sprechen, die oft als Tabu gelten. 

Für Jesús ist das Beste an seiner Arbeit, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Er schafft einen sicheren Raum, in dem sich alle wohl und verstanden fühlen. „Ich kann frei reden und habe das Gefühl, dass, egal was ich sage, ich nicht verurteilt werde oder mich abgelehnt fühlen muss“, sagt er.

Jesús sitzt mit einer Teilnehmerin bei einem seiner Workshops zusammen.
Jesús mit einer Teilnehmerin seines Workshops im Red Somos Center. „Mir gefällt, dass es ein Raum für alle ist“, sagt er. „Es ist nicht wie in der Uni, wo es Schüler*innen und Professor*innen gibt – das hier ist ein Raum zum Teilen und Austauschen.“
Foto: Julián Ruiz/̽ѡ

Wie unterstützen ̽ѡ und Red Somos die LGBTQ+ Community in Kolumbien?

Im Jahr 2022 unterstützte ̽ѡ gemeinsam mit Red Somos die Initiative „Tu pana te cuida“, was auf Deutsch in etwa „Deine Homies kümmern sich um dich“ bedeutet. Dieses Programm bietet Schutz- und Präventionsmaßnahmen sowie Nachsorge bei geschlechtsspezifischer Gewalt und richtet sich speziell an Venezolaner*innen in Kolumbien und an Kolumbianer*innen, die aus Venezuela zurückgekehrt sind und sich als Teil der LGBTQ+-Community identifizieren. Dazu gehören Veranstaltungen zur Sensibilisierung, Casemanagement für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt und Gruppensitzungen zur psychosozialen Unterstützung. Tu pana te cuida setzt sich auch für die Stärkung von lokalen Netzwerken ein, indem es mit Gemeinden zusammenarbeitet und Netzwerke zwischen Migrant*innen schafft.